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Umstrittener Messengerdienst Telegram hält sich neuerdings an Gesetze, zumindest ein bisschen

Auch wenn das Unternehmen das Gegenteil behauptet: Telegram hat nach SPIEGEL-Informationen Nutzerdaten an das BKA gegeben. Die Regierung verbucht das als Erfolg, trotzdem missachtet Telegram weiter deutsche Vorschriften.
Telegram-App: Für manche schon »Terrorgram«

Telegram-App: Für manche schon »Terrorgram«

Foto: Fabian Sommer / dpa

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Die Betreiber der Messenger-App Telegram haben – anders als bislang öffentlich dargestellt – in mehreren Fällen Nutzerdaten an das Bundeskriminalamt (BKA) herausgegeben. Dabei handelte es sich nach SPIEGEL-Informationen um Daten Verdächtiger aus den Bereichen Kindesmissbrauch und Terrorismus. Bei Verstößen gegen andere Straftaten sei es für deutsche Ermittler weiterhin schwierig, von Telegram Auskünfte zu erlangen, heißt es in Sicherheitskreisen.

Dass Telegram überhaupt Auskunft über Nutzer an Behörden erteilt, markiert zumindest eine vorsichtige Kehrtwende im Kurs des 2013 gegründeten Unternehmens. Lange bekamen deutsche Ermittler keinerlei Antworten, wenn sie wissen wollten, wer hinter Telegram-Konten steckt, die strafbare Inhalte im Netz verbreiten. Die Betreiber erklären auf ihrer Seite weiterhin: »Bis zum heutigen Tag haben wir 0 Byte Nutzerdaten an Dritte weitergegeben, einschließlich aller Regierungen.«

2018 kündigte Telegram-Gründer Pawel Durow eine Überarbeitung der Privatsphären-Richtlinien an, laut der sein Dienst auf richterliche Anordnung IP-Adressen und Telefonnummern herausgeben könnte. »Das ist bis heute nicht passiert«, heißt es indes im entsprechenden Abschnitt der Richtlinie. Ein halbjährlich aktualisierter Transparenzbericht-Kanal von Telegram  verzeichnet bisher ebenfalls keine Datenübergabe an Behörden. Eine SPIEGEL-Anfrage zu dem offenkundigen Sinneswandel ließen Durow und seine PR-Abteilung unbeantwortet.

In den vergangenen Jahren wurde Telegram insbesondere bei Querdenkern und Rechtsextremen immer beliebter – nicht zuletzt wegen der Aussagen der Betreiber, in der Regel nicht mit Regierungen und ihren Behörden zu kooperieren. Experten bezeichneten eine Szene besonders extremistischer Onlineaktivisten, die über den Messenger kommunizieren, bereits als »Terrorgram«. In diversen Kanälen waren etwa Anleitungen zum Waffenbau oder zum Mischen tödlicher Gifte zu finden. Auch weil über ihre App zu Gewalt gegen Politikerinnen, Aktivisten oder Wissenschaftler aufgerufen wird, stehen die Betreiber in der Kritik. (Lesen Sie hier mehr darüber, wie Telegram zu einer Art Darknet für die Hosentasche wurde.)

Innenministerium im Videocall mit dem Telegram-Chef

Das Bundesinnenministerium ist seit Anfang Februar in direkten Gesprächen mit Telegram, um den Dienst dazu zu bringen, mit deutschen Behörden zu kooperieren und strafbare Inhalte zu sperren. Beim ersten Austausch tauchte Telegram-Chef Durow persönlich im Kapuzenpullover im Videoanruf auf, neben drei weiteren hochrangigen Vertretern des Unternehmens, darunter zur Überraschung der Ministerialen auch ein leitender deutschsprachiger Mitarbeiter. Teilnehmer beschrieben den Austausch danach als durchaus freundlich und konstruktiv. Durow habe die Bedeutung des deutschen Marktes hervorgehoben und signalisiert, die Bedenken und Forderungen ernst zu nehmen. Man kam überein, einen verlässlichen direkten Kanal auf Arbeitsebene einzurichten.

Nach SPIEGEL-Informationen kam es seither noch zu zwei weiteren Gesprächen zwischen Telegram-Mitarbeitern und dem Bundesinnenministerium, auch Vertreter des Bundesjustizministeriums waren beteiligt.

Telegram hat inzwischen zudem eine E-Mail-Adresse speziell für das BKA eingerichtet. Dorthin wenden sich Ermittler, wenn sie in Ermittlungsverfahren auf strafbare Inhalte stoßen, die Telegram sperren soll. Mehr als hundert deutsche Kanäle und Gruppen hat das BKA inzwischen an Telegram gemeldet, nahezu alle seien aus Deutschland tatsächlich nicht mehr erreichbar, heißt es aus mit den Vorgängen betrauten Kreisen.

Innenministerin Nancy Faeser erklärte, sie habe seit ihrem ersten Tag im Amt erheblichen Druck aufgebaut, um Telegram zur Kooperation zu bringen: »Dieser Druck wirkt«, so die SPD-Politikerin. Die Ministerin sieht allerdings auch anhaltende Probleme mit dem Dienst. Die App dürfe nicht länger ein Brandbeschleuniger für Rechtsextreme, Verschwörungsideologen und andere Hetzer sein, sagt Faeser. »Wir werden weiter darauf drängen, dass die Plattform den gesetzlichen Pflichten nachkommt.«

Experten sehen weiterhin zahlreiche rechtsextremistische Inhalte

Die deutsche Organisation Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) registriert mehr Sperrungen und Löschungen als im vorigen Jahr, kann aber bislang keinen grundsätzlichen Kurswechsel bei Telegram ausmachen. Sie überwacht automatisiert mittlerweile rund 3000 deutschsprachige Kanäle und Gruppen, in denen verschwörungsideologische und rechtsextreme Inhalte verbreitet werden. Aus diesem Pool seien derzeit 81 Kanäle und 90 Gruppen eingeschränkt oder gesperrt, sagt CeMAS-Experte Josef Holnburger. Im gesamten Vorjahr waren nur 25 vergleichbare Kanäle und Gruppen verschwunden.

Noch immer wirkten die Sperren unsystematisch und sehr willkürlich – so gebe es weiterhin viele Kanäle und Gruppen des Rechtsextremisten Attila Hildmann.

Telegram lässt Frist im Bußgeldverfahren verstreichen

Unterdessen drohen Telegram wegen zweier Bußgeldverfahren des Bundesamts für Justiz Strafzahlungen in Höhe von bis zu 55 Millionen Euro. Die Behörde wirft dem Messenger Verstöße gegen das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz vor. Das Bonner Amt hat die beiden Verfahren bereits im Frühjahr 2021 eröffnet. Allerdings konnten die amtlichen Schreiben trotz mehrerer Versuche nicht an eine offizielle Anschrift von Telegram in Dubai zugestellt werden.

Das Bundesamt für Justiz wählte im März dieses Jahres daher den ungewöhnlichen Weg einer öffentlichen Zustellung und machte die Schreiben in Kurzform im Bundesanzeiger publik. Inzwischen hat eine Anwaltskanzlei, die Telegram in der Sache vertritt, die vollständige Fassung der Anhörungsschreiben in Bonn eingesehen.

Für Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zeigt die Entwicklung, dass »niemand sich durch Nichterreichbarkeit wegducken« könne: »Unser Rechtsstaat ist wehrhaft und durchsetzungsstark – auch gegenüber ausländischen Anbietern«. Telegram sei verpflichtet, Beschwerdesysteme für Meldungen strafbarer Inhalte durch Nutzer einzurichten, so der Minister. Das Fehlen eines solchen gesetzlich vorgeschriebenen, dauerhaft erreichbaren Zustellungsverfahrens ist auch einer der Vorwürfe in den laufenden Bußgeldverfahren.

Eigentlich hätte Telegram sich bis Ende April zu den darin vorgebrachten Vorwürfen erklären müssen, doch zwischenzeitlich hatte die vom Unternehmen beauftragte Kanzlei um Fristverlängerung gebeten. Auch dieser Aufschub ist nach SPIEGEL-Informationen allerdings am 1. Juni abgelaufen.

Ob sich die neuen informellen Kanäle und Kontakte des Innenministeriums zu den Verantwortlichen nach ersten positiven Signalen als wirklich nachhaltig und belastbar erweisen, wird sich also erst noch beweisen müssen.

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